Ich stehe vor einer ca. zwei Meter hohen, leicht gekippten, Felswand. Es regnet. Die nette Dame vom UTLW-Orga-Team lächelt mich an und fragt mich, wie es mir geht. Wie soll es mir schon gehen nach acht Stunden und knapp 50 Kilometern mit 2700 Höhenmetern durch den bayerischen Wald? „Super“ sage ich und weiß sofort, dass sie mir nicht glaubt. Ihre Antwort: „Nach 50 Kilometern ist das auch egal, oder?“ Ich nicke, nehme das Seil mit den Knoten entgegen und wuchte meinen von viel zu viel isotonischen Getränken aufgeblähten Leib den Fels hoch. Erstaunlicherweise klappt das sogar und ich befinde ich mitten in Tromsø. Nein, kein Wurmloch. Sondern der neue Streckenabschnitt des U. Trail Lamer Winkel, den man kurz vor dem Ziel durchläuft. Benannt nach dem Tromsø Skyrace.
Ich weiß nicht, ob einer der Organisatoren „vom Fach“ ist, aber als Werbefuzzi attestiere ich den Veranstaltern großes Geschick in Sachen Marketing. Streckenabschnitte werden durch Namen wie Tromsø, Promised Land und Holy Trail zum Alleinstellungsmerkmal und die gesamte Veranstaltung wirkt trotz des sehr familiären Charakters durch und durch professionell. Dazu tragen elementare Dinge bei wie die hervorragende Kennzeichnung der Strecke bei, aber auch Aspekte, die man gerne unterschätzt, wie beispielsweise einheitliche Kleidung aller „Offiziellen“ oder eine Beschilderung, die sowohl auf Comic Sans wie auch auf Regenbogenfarben verzichtet.
Aber Stop! Rewind selecta. Worum geht es eigentlich? Im vergangenen Jahr urlaubten wir während der Pfingstferien in Bayern und ich stolperte via Facebook über diese neue Trailveranstaltung ganz in der Nähe. Den Rest kann man hier nachlesen. Ich war als totaler Trailnoob damals schon vom Bambinilauf mit 14 Kilometern und 700 Höhenmetern völlig geflasht. Der Aufstieg zum Osser hatte mich vor einem Jahr gleichermaßen fasziniert und entsetzt. Da läufst Du seit zehn Jahren durch die Gegend, hast neun Marathons mehr oder weniger erfolgreich hinter Dich gebracht und dann kommt ein kurzer Lauf durch ein Mittelgebirge und auf einmal ist alles anders. Ein klassischer Fall von „Leider geil.“
Als ich damals nach meinen popeligen 14 Kilometern in Lam ankam und zwischen all den Läufern stand, die fast die vierfache Distanz absolviert hatten, war klar: 2016 versuche ich das auch. Ich will auch mal richtiger Ultratrailer sein. Gesagt, getan. Anfang Dezember meldete ich mich an und war einer der Glücklichen, die eine Startnummer ergatterten bevor der UTLW nach 17 Stunden ausgebucht war. Der UTLW sollte ein entscheidender Part meiner Vorbereitung auf den Zugspitz Supertrail (ZUT) sein.
Pfingstferien im bayerischen Wald waren auch wieder geplant, allerdings eine Woche vorher auf einem Bauernhof. Dank meiner findigen Ehefrau verlängerten wir den Urlaub um eine Woche in Arrach. Perfekte Bedingungen also für eine gewissenhafte Vorbereitung. Back to the roots sozusagen. Denn davon gibt es mehr als genug im Lamer Winkel. Allerdings wurde mir erst vor Ort klar, dass der UTLW viel mehr als nur ein Trainingslauf für den ZUT sein würde. 53 Kilometer? Erst zwei Mal gelaufen. 2.700 Höhenmeter? Noch nie geschafft. Neun Stunden oder mehr unterwegs? Absolutes Neuland! Und dazu das technisch anspruchsvolle Terrain. Auch die Tatsache, dass mein Trailmarathon in Lichtenstein nicht so ganz rund gelaufen war, war nicht gerade motivationsfördernd.
Und wie das im Urlaub nun mal so ist, fand der geplante Vierstunden-Lauf nicht statt, aber immerhin gab es ein paar Touren über zwei Stunden mit ein paar Hundert Höhenmetern. Und dann stand ich an unserem letzten Urlaubstag um kurz vor acht Uhr im Arracher Seepark und wartete auf den Startschuss zu dem anstrengendsten Abenteuer, das ich je unternommen habe.
Von den 53 Kilometern, die vor mir lagen kannte ich die ersten neun Kilometer bis zum VP1 (im Urlaub abgelaufen) und die letzten 14 mit Ausnahme von Tromsø (aus dem letzten Jahr). Was mich beunruhigte: Der Aufstieg zum Osser, der mich 2015 so beeindruckt hatte, wurde in allen Berichten nebenbei abgehandelt. Der Weg von VP1 zu VP2 auf dem großen Arber hingegen wurde als der „schwerste Teil der Strecke“ charakterisiert und der Aufstieg zum Zwercheck wurde ebenfalls ziemlich drastisch dargestellt. Ich bin ehrlich: Ich hatte etwas Sorge, es nicht zu schaffen. Allein der Gedanke an den verwurzelten Aufstieg zum Osser mit 40 Kilometer in den Beinen ließ leichte Panik in mir aufsteigen.
Aber das Schöne ist ja, dass alle Ängste und Sorgen mit dem Startschuss vergessen sind und man nur noch laufen muss. Nachdem Jörn und Chris auf den Osser Riesen downgegradet hatten, hatte ich mich mit dem letzten verbliebenen Mohikaner Michael in Arrach verabredet, um gemeinsam mit ihm zu starten. Die VP1 erreichten wir gemeinsam locker innerhalb des Zeitlimits, aber nach ca. 14 Kilometern machte sich bemerkbar, dass Michael zwar so groß wie ich ist, aber locker 20 Kilo weniger wiegt. Dass er „nur“ 25 Minuten vor mir ins Ziel kam, lag wohl daran, dass er sich kurzzeitig verlaufen hatte.
Die 15 Kilometer von VP1 zur VP2 zogen sich wie erwartet, waren aber weniger schlimm als von mir befürchtet. Es ging über mehrere Gipfel des bayerischen Walds bis wir schließlich auf dem großen Arber angelangten. Das Terrain wurde zunehmend felsiger und teilweise war Handarbeit gefragt, um die Gipfel zu erklimmen. Erstaunlich auch, wie schnell die Zeit vergeht. 20 Kilometer auf der Uhr, aber schon über drei Stunden unterwegs. Eine Durchschnittspace von knapp 10 Minuten pro Kilometer macht es möglich.
Die große Auswahl am VP2 machte mir mal wieder deutlich, dass ich nicht den Hauch einer Ernährungsstrategie habe. Ich wandte deshalb die übliche Büffett-Taktik an: Von allem etwas. Iso, Wasser, Stück Kuchen, Apfelschnitz und so eine Gel-Waffel. Wird schon passen. Mein Magen ist zum Glück teflonbeschichtet.
Die 11 Kilometer vom Arber zum nächsten VP hatte ich gedanklich schon abgehakt. 700 Höhenmeter bergab und die Aussicht auf ein Meet & Greet mit der Family auf der Scheibe bei Kilometer 36 machten den nächsten Abschnitt zum Selbstläufer. Überhaupt das Thema Familie. Meine Frau und ich haben schon vor längerer Zeit bemerkt, dass es stressfreier für alle ist, wenn ich alleine zu Laufveranstaltungen fahre. Allerdings galt diese Maxime für Straßenwettbewerbe. Bei einem Ultratrail, bei dem Zeit eine nicht so wichtige Rolle spielt, ist es einfach anders. Wobei die knapp 60 Minuten, die ich an den vier VPs verbracht habe, wohl doch noch optimierungswürdig sind.
Anschließend ging es hoch zum Zwercheck. Der berüchtigte verwurzelte und verblockte Aufstieg stand mir bevor. Und tatsächlich hat man das Gefühl als ob sich jederzeit ein Ent entwurzeln und losmarschieren könnte. So. Verdammt. Viele. Wurzeln. Aber so anstrengend es auch ist: Es ist machbar. Gut machbar.
Vom Zwercheck bergab läuft man man ca. vier Kilometer leicht bergab über eine Forststraße. Luxus für die Füße also. Nach meinem wenig rühmlichen Wandertag beim Trailmarathon war ich gespannt, ob und wie ich diese Passage laufen würde. Die Antwort: 5:53, 5:49, 5:52 und keinerlei Verlangen, diesen Abschnitt zu gehen. Und spätestens jetzt wusste ich, dass ich den UTLW in einer akzeptablen Zeit zu Ende bringen würde. Sogar der noch bevorstehende Aufstieg zum Osser Riesen verlor seinen Schrecken. Und tatsächlich konnte ich die drei Kilometer bis zum Gipfel langsam aber ohne Pausen hochschnaufen, begleitet von Donnerhallen um uns herum und Regentropfen in rekordverdächtiger Größe. Doch wir hatten Glück und das Gewitter zog um uns herum.
Auf dem Osser gab es ein Radler in den Faltbecher und dann ging es bergab. Zum Glück nur topografisch, denn ich wusste schließlich, was mich erwartet – Tromsø mal ausgenommen. Ich hatte das Privileg, die wohl schönsten Abschnitte der gesamten Strecke komplett für mich zu haben. Es war einfach traumhaft, ganz alleine durch diesen moosigen, nadeligen Zauberwald zu laufen, während sich Regen und Sonnenschein abwechselten.
Irgendwann spuckte der Wald mich aus und ich befand mich auf der Wiese oberhalb von Lam. Ich fühlte mich echt schäbig, als ich mein iPhone zückte und meiner Frau meine Zielankunft ankündigte, aber manchmal muss das eben sein. Zirca zehn Meter vor mir gingen einige zukünftige Königinnen und Könige vom Bayerwald. Ich wollte mich schon anschließen als ich feststellte, dass ich nicht gehen, sondern laufen wollte. Also trabte ich vorbei an der Gruppe und begab ich mich auf den letzten asphaltierten Kilometer runter zum Marktplatz nach Lam. Wie man in Stuttgarter Bloggersprech so gerne sagt: „Fällt mir nur geil ein.“ Der letzte Kilometer in 5:16, an der Ecke vor dem Marktplatz die Kinder aufgesammelt, auf der Zielgerade noch mal überholt worden (Scheiß drauf!) und unter neun Stunden über die Ziellinie.
Was bleibt?
Grenzenloses Selbstvertrauen! Der UTLW war mehr als eine Rehabilitation für die suboptimalen 45 Kilometer auf der schwäbischen Alb. Ich fühlte mich nie schnell, aber jederzeit stark. Wenn man auch nach 50 Kilometern auf schmalen Trails noch mühelos in den Laufschritt verfallen kann, ist das einfach ein geiles Gefühl. Jetzt verbleiben noch 17 Tage für die Formkonservierung und dann stehen in Grainau 60 Kilometer und 3.000 Höhenmeter an. Aber irgendwie macht mir das gerade keine Angst mehr.
Und der UTLW?
Wer sich nicht anmeldet, hat den Ultra-Trail nie geliebt. Ultra-familiär, ultra-professionell, ultra-schön. Denn wo sonst läuft euer Nachwuchs einen Kids Trail mit einer der schnellsten Trail-Läuferinnen Deutschlands und bekommt zur Belohnung die gleiche Medaille (und noch drei Kugeln Eis dazu!), für die ihr einen Tag später 53 Kilometer zurücklegen müsst (und kein Eis dazu bekommt)?
Ich bin nächstes Jahr wieder dabei – auch wenn der UTLW 2017 nicht in die Pfingstferien in Baden-Württemberg fällt.
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